Klabautermann

"Am 1. März 1696 zogen wir mit meinem neuen Schiff, der Adventure Galley, aus London los nach New York. Nach einigen Ärgereien mit der verfluchten Royal Navy, die wir nicht grüßen wollten (obwohl es zu damaliger Zeit so üblich war), welche daraufhin einen großen Teil meiner ausgesuchten Crew preßten, das heißt: entführten, mußte ich mit schlecht ausgebildeten, rohen und heruntergekommenen Seeleuten, welche mir im Austausch mit meiner Crew gnädigerweise von der Navy überlassen wurden, meine Jagd auf die Piraten beginnen.

Das große moderne Schiff, welches mit 34 Geschützen bestückt war und ich jetzt zur Piratenjagd führte, mußte seine erste Feuertaufe im Atlantischen Ozean, bei einem Sturm, bestehen. Wir kamen in diesem Sturm jedoch vom Kurs ab. Als es windstiller wurde, segelten wir an einer kleinen Insel mit einem hohen Berg vorbei, welcher direkt bis zum Wasser reichte und keinen Platz für einen Strand bot. Diese Felseninsel war in keine Seekarte eingezeichnet, so das wir auch nicht wußten, wo wir uns auf dem Atlantischen Ozean befanden. Als wir diesem Berg, der hauptsächlich aus schroffem Stein bestand und wenig Gelegenheit für Vegetation bot, direkt gegenüber waren, kam aus der Wand des Berges ein Gesicht heraus, dann waren es zwei Gesichter, dann drei, vier und zum Schluß waren es gar sieben Gesichter, die, nicht Fleisch, nicht Blut, so eigenartig flackernd - wie geisterhafte Wesen - aus dem Berg zu uns herüberschauten. Sie tauchten in die Felswand ein und kamen wieder hervor und alle mahnten sie:

"Fahrt zurück! Nehmt nicht diesen Weg, der zum Meeresungeheuer geht! Rafft die Segel und macht kehrt, ist euer Leben euch noch was wert! Seid nicht dumm und drehet sofort auf der Stelle um!".

Und als alle sieben Berggesichter diese Warnung ausgesprochen hatten, verschwanden sie wieder in den Berg hinein und dieser seltsame Spuk war damit vorbei. Doch eher überrascht über das vorhergehende als gemahnt, fuhren wir weiter und zwar vorwärts statt zurück und das so schnell es ging, wollten wir doch von diesem ungeheuerlichen Ort nur schnell fort. So fuhren wir geradewegs auf das Meeresungeheuer zu."

"Das ist aber spannend, was du da erzählst." gab ich ihm dazwischen Bescheid.

"Ja schon, aber bleibe ruhig, es geht ja gleich weiter." mahnte er mich zur Ruhe, denn er mußte sich sehr konzentrieren, um seine abenteuerliche Geschichte weiter erzählen zu können.

"Die See wurde unruhig und der Himmel verdunkelte sich, als wenn es Nacht werden würde. Grelle Blitze zuckten aus den mächtigen Wolkentürmen zum Meer hinab und ließen stark grollende und knallende Donner folgen. Heftiger Regen setzte ein, mit Regentropfen die so groß wie Pflaumen waren. Langsam fing die See zu schäumen an, die Winde wurden stärker und stärker, bis der Orkan gänzlich aus voller Kraft tobte und unser Schiff auf dem Wasser hin und her warf. Die Wogen zichten über das Deck hinweg und brachen sich an den Masten. Der Gangspill drehte sich - von der Kraft des Wassers angetrieben - eine ganze Runde um sich selbst, als ein Kaventsmann darauf krachte und es mit seinem Naß umhüllte. Schäumend zog sich, als das Schiff sich auf einem Wellenberg in der Höhe befand, das Wasser zurück vom Deck ins Meer hinab, um anschließend im folgenden Wellental wieder mit voller Wucht aufs Deck und seiner daraufstehenden Mannschaft zu prallen. Das Schiff war nun vollkommen in Gischt gehüllt und der Wind, der in den Masten und in seiner Takelage ein heftiges Rasseln, Heulen und Pfeifen hervorrief, zerfetzte nacheinander alle Segel und es schien, als sei unser Schiff bald dem Untergang geweiht. Da erhob sich plötzlich - zu unserem allgemeinen Schrecken und Schaudern - mit einem Gurgeln und einem Zischen, sowie mit einem unbeschreiblichen, ja unsagbar nervenzerreibenden Stöhnen, aus dem Meer auch noch ein riesiges Ungeheuer mit großen Augen und vielen langen mächtigen Armen, an denen sich unzählige Saugknöpfe befanden, so ähnlich wie bei einer Krake, doch war dieses Geschöpf noch wesentlich größer als ein solches Tier, ja so groß, daß es fast unser gesamtes Schiff umfassen und in die Tiefe des Ozeans ziehen konnte.

Sogleich legte das Ungeheuer auch seine riesigen Arme an das Schiff an, saugte es mit seinen Saugknöpfen fest und begann es so heftig zu rütteln und zu schütteln, daß wir schwerlich Mühe hatten, auf unseren Beinen zu bleiben. Wir schossen mit Pistolen und Kanonen auf dieses Vieh und es ließ daraufhin sogar einen Augenblick los, doch dann schien es uns, als hätten wir es mit unserer Attacke nur noch wütender gemacht, denn nun legte es noch mehr ihrer Arme an unser Schiff an und versuchte uns langsam in die Tiefe des Meeres zu ziehen. Jedermann von uns nahm sich daraufhin einen Enterhaken oder ein Schwert oder statt dessen, falls er es fand, auch eine Axt oder ein Beil und schlug damit auf die vielen Arme dieses Ungeheuers ein, damit es das Schiff losließe. Doch viel konnten wir nicht ausrichten, da kletterte ein Matrose den Besanmast hinauf und sprang von dort oben hinab in die Tiefe, genau auf den Kopf des Ungeheuers, um sogleich mit seinem Schwert in die Augen dieses Ungetüms einzustechen.

Was für einen Mut hatte dieser Matrose, wollte er sich doch alleine opfern, um die Mannschaft und ihr Schiff zu retten. Und er hatte Erfolg. Das riesige Meeresungeheuer ließ bald daraufhin das Schiff los und verschwand in die Fluten hinab, mit dem Matrosen auf dem Kopf, welcher nun wohl ertrinken mußte. Eine Weile warteten wir noch, was nun geschehen würde, wobei die Wellen weiterhin hoch über die Reling schossen und das Schiff im Wellengang sich mal zu Luv und mal zu Lee neigte. Ein weiterer Kaventsmann fegte über das Deck hinweg und zog einige Taue und ein großes Segel mit sich in die Tiefe.

Dann plötzlich, nach nur kurzer Zeit, tauchte der Matrose aus dem Ozean wieder auf. Ein starker Mann aus unserer Crew, zudem ein guter Schwimmer, band sich ein Seil um seinen Bauch und sprang ins Wasser hinein, um den mutigen Matrosen aus dem tobenden Meer zu holen. Er schwamm zu ihm hin, erfaßte ihn und wir zogen alle fest an dem Seil, um beide aus dem Ozean hinauf aufs rettende Deck unseres Schiffes zu ziehen. Zu unserem Erstaunen lebte der Matrose noch und nachdem er keuchend ein wenig verschlucktes Wasser wieder ausgespuckt hatte, erzählte er uns, was dort unten geschah. Doch wir hatten nicht viel Zeit ihm zuzuhören, mußten wir doch sehen, daß wir von diesem unheilvollen Ort wegkamen (wir sahen auch nicht das goldene Haar, welches er seltsamerweise in seiner Hand hielt), und so wendeten wir das Schiff und fuhren so schnell uns der orkanartige Wind in die restlichen Segel blies, weit von diesem Ort fort, wo es windstiller war - ja man kann sagen, daß dort fast kein Hauch von Lüftchen wehte - und es war der Ort, wo wir uns von diesem gefährlichen Abenteuer erst einmal erholen konnten."
beendete nun der Klabautermann seine packende Erzählung über sein erstes gefährliches Abenteuer auf See.

"Wow, das war aber wirklich ein gefahrvolles Abenteuer, was ihr da bestehen mußtet," gab ich, noch ganz von der Spannung berührt, dem Klabautermann zu verstehen "doch was geschah eigentlich dort unten im Wasser mit dem Matrosen, in den Klauen des Meeresungeheuers?".

"Hm, so genau wußte das nachher keiner mehr, was der Matrose uns erzählt hatte, alle waren wir viel zu aufgeregt von den Geschehnissen und zu laut war das Getöse des Windes und des Wassers, um dem Seemann genau zuhören zu können. Später hat er nie wieder etwas von seinem Erlebnis erzählt. Aber es gibt noch immer eine Sage in Gedichtform, die will ich dir nicht vorenthalten." da drehte der Klabautermann sich dreimal ganz schnell um seine eigene Achse um

- wusch-wusch-wusch -

und der Innenraum der Kajüte verdunkelte sich und im Hintergrund hörte ich orkanartige Winde und das tobende Wasser wie bei einem Sturm, auch hatte ich das Gefühl, daß das Schiff zu schaukeln begann, dann sagte Captain William Kidd mit unheilvoll geschwängerter Stimme sein ungeheuerliches Gedicht auf:

Das Meeresungeheuer

Das Meeresungeheuer zog einen Matrosen tief
hinab auf des Ozeans Grund,
genau dorthin wo die Königin Meerjungfrau schlief,
zuvor saugte er ihn aber noch kurz ein in seinen Schlund.

Mit seine Armen umfaßte er hernach ihn
und gab ihn lange Zeit nicht wieder los,
dabei grinste dieses Ungeheuer fürchterlich
und legte ihn anschließend tot auf der Meerjungfrau Schoß.

Da wurde die Meerjungfrau wach
und erschrak über das was sie da sah
doch sie dachte nur kurz eine Weile nach
und erweckte ihn gleich wieder - mit ihrem goldenen Haar.

Das Meeresungeheuer zog sich zurück,
denn die Meerjungfrau war die Königin im Revier,
das Ungeheuer suchte woanders nun neues Unglück,
es war weit und breit das größte und böseste Tier.

So kam der Matrose von der Tiefe wieder rauf,
in der Hand hielt er ein goldenes Haar,
sein Schiff nahm ihn wieder auf
und er erzählte allen, was da unten geschah.

"Im Meer, im Meer, da lebt ein böses Tier,
doch ist dort auch ein Meerjungfräulein,
ihr Haar ist so Golden wie dieses hier
und ihr Herz wie Kristall so rein."

Nach dem Vortrag des Gedichts verschwand das Meeresgetöse und das Sturmgebrause im Hintergrund wieder, zugleich erhellte sich auch das Licht in der Kajüte wieder.

"Ganz hübsches Gedicht, was du da vorgetragen hast," lobte ich ihn "doch wie ging dann deine Reise weiter?"

"Oh ganz einfach, wir flickten unsere Segel und reparierten die beschädigte Takelage und fuhren weiter nach New York, ohne jedoch wieder an die Insel mit dem Berg und seinen seltsamen sieben Berggesichtern vorbeizukommen. In New York blieben wir bis im darauffolgenden September, ließen in dieser Zeit unser Schiff mit Proviant und Munition neu beladen und machten uns dann erwartungsvoll auf den Weg zur Pirateninsel Madagaskar.

Wir kamen auf dieser Strecke am Kap der Guten Hoffnung vorbei, welches an der Spitze von Südafrika liegt, segelten anschließend in die Bucht von St. Augustine und weiter bis zum Komoren-Archipel, wo wir auf der Insel Mehila unser Schiff kielholten.


Weißt du, was kielholen heißt?"
fragte er mich überraschend und ich war so verblüfft über diese Frage, daß ich mit einem, wie aus der Pistole geschossenen "Nein!" antwortete.

"Na dann will ich es dir kurz erklären. Das Schiff wird in seichtes Wasser an einem Strand gezogen und dann auf die Seite gelegt, einmal auf die Backbordseite und dann auf die Steuerbordseite. Der Rumpf des Schiffes wird auf beiden Seiten von Muscheln und Seetang befreit, dann wird Pech und Hanf aufgetragen, um das Schiffsrumpf zu versiegeln. Man nennt diesen Vorgang auch Kalfatern. Vor allem sollte das Kalfatern den Holzbohrwurm fernhalten, der sich leicht vom Wasser her in den Rumpf des Schiffes fraß und es derart durchlöchern konnte, daß die Gefahr des Sinkens für das Schiff bestand. "

"Das war sicher eine schwierige Arbeit?"

"Ja sicher, das war es. Vor allem dann, wenn die Mannschaft geschwächt von Hunger und Krankheit war, wie es bei meiner Mannschaft der Fall gewesen ist. In der einen Woche, wo wir auf der Insel Mehila waren, verstarben alleine 50 meiner Leute an irgendwelchen Krankheiten."

"So viele Menschen, das ist ja grauenvoll! Hattet ihr denn keinen Arzt an Bord?"

"Doch! Unser Arzt war der Zimmermann, der konnte besonders gut mit der Säge umgehen. Zum amputieren von Beinen und Armen war er ausgezeichnet geeignet. Zu mehr aber auch nicht. Ärzte, wie es sie heute gibt, gab es damals noch nicht."

"Das muß ja eine grausame Zeit gewesen sein?"

"Na ja, na ja, manchmal schon," da legte er eine kurze Gedankenpause ein, bevor er weiter zu erzählen begann, und in seinem Gesichtsausdruck machten sich kritische Gedankenfalten breit, "... jedenfalls fuhren wir dann weiter bis zum Roten Meer, bis kurz vor die Stadt Mokka. Dort wollten wir, es war immerhin schon mehr als ein Jahr seit unserer Abreise aus New York vergangen, unser erstes Schiff kapern, was aber gehörig mißlang, da ein Schiff, welches den Namen Sceptre trug, mit ihren 36 Geschützen uns gehörig unter Feuer nahm und wir segelten daraufhin davon und zwar so schnell und so weit es ging. Bis an die Küste von Indien flohen wir, soweit waren wir inzwischen gekommen, wo wir dann, nachdem wir uns von unserem ersten Schrecken erholt hatten, sogleich unseren zweiten Versuch starteten ein Schiff zu kapern und es sollte uns diesmal gelingen. Wir enterten in den indischen Gewässern vor der Malabar-Küste eine maurische Bark, welche Ballen mit Pfeffer und Säcke mit Kaffee geladen hatte und nahmen zwei höhere Besatzungsmitglieder dieses Schiffes gefangen, für die wir gute Verwendung an Bord hatten. Die maurische Bark nahmen wir erst einmal als Prise mit. Da uns unsere erste Kaperung, wenn auch verspätet, doch diesmal erfolgreich gelang, versuchten wir es bei einem anderen Schiff gleich ein weiteres Mal. Wir plünderten also das nächste Handelsschiff, das unseren Weg kreuzte, aus, um an weitere Schätze zu gelangen sowie uns wieder mit Proviant zu versorgen. Doch war das ganze ja Piraterie und genau das Gegenteil von dem, was wir eigentlich hier im Indischen Ozean vorhatten. Wir wollten ja eigentlich diejenigen, die Piraterie betrieben, jagen und ihnen ihre Beute abnehmen, so waren wir aber jetzt selber Piraten geworden und überfielen wehrlose Handelsschiffe statt sie zu schützen.

Allerdings, zu unserer Entschuldigung, waren wir auch in einer Zwangslage, da unsere Vorräte an Bord ausgegangen waren und wir nicht verhungern wollten. So kaperten wir in dieser Zeit noch mehrere Schiffe und hatten dabei nicht wenige Gefahren zu bestehen. Von einer will ich dir, kleiner Fritz, gleich erzählen."

"Oh ja, tue das. Ich höre dir weiterhin ganz still zu." gab ich Captain William Kidd begeistert zur Antwort und rührte mich nicht weiter, um ihn ungestört erzählen zu lassen, saß ich doch bereits schon eine Weile ganz ruhig auf einer alten Holzkiste und hörte dem Piratenkapitän aufmerksam zu, so auch, als er mir nun sein nächstes gefährliches Abenteuer ausführlich erzählte.

Klabautermann